Während Gerd in Indien war, habe ich ein paar Tage in einer Ticofamilie in Turrialba gewohnt, eine wirklich tolle Gelegenheit, um nicht nur mein Spanisch zu verbessern, sondern auch um mit den Einheimischen zu leben und ihren Alltag zu verstehen. Ich hatte es mehr als gut getroffen mit meiner Familie, die ein kleines Häuschen am Rande von Tuis bewohnte, ein kleines Dorf ca. 15 km von Turrialba entfernt.
Bei Freddy und Samia mit ihren Kindern José Pablo (10) und Jimena (12) habe ich mich sofort wohl gefühlt.
Alles, was ich über die Tico-Natur gelesen oder gehört hatte, konnte ich bei ihnen und ihren Familien nachempfinden: die Ticos sind höflich, gastfreundlich, gelassen, immer gut drauf und möchten, dass es jedem bei ihnen und in Costa Rica gefällt. In ihrem Wohlfühl- und Kuschelbestreben verniedlichen und verkleinern sie alles, was so geht. Sie bieten gleich ihren „cafecito“ an, sie lieben ihre Groß-Familien (alle wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft), natürlich stellten sie mich gleich jedem vor, Mamita, Papito, Hermanita (Schwesterchen) und all ihren Kusinen (Primitas). Immer kam irgendjemand durch die offene Haustür herein und bekam was Leckeres zum Essen von Samia, die eine exzellente Köchin ist. Endlich habe ich auch verstanden, warum die Costaricaner sich selbst „Ticos“ nennen, sie verniedlichen sich eben auch selbst. Ich hieß bei Samia nur noch „Dita“, was man nicht übersetzen konnte, aber vielleicht war es die doppelte Verkleinerung von „Dagmarita“. Als Friesenkind kam mir die Erkenntnis, dass die Ticos eigentlich die Schwaben von Lateinamerika sind, erinnert es mich doch an die Schätzle, die im Häusle die Spätzle machen :-).
Die Gegend rund um Turrialba ist geprägt von Ackerbau und Viehzucht. Hier gibt es keine Mauern, keine Zäune um die Häuser und nirgendwo Stacheldraht, der in San José leider nicht wegzudenken ist. Hier kennt jeder jeden und alle halten zusammen. Die Menschen sind sehr christlich (> 75% katholisch in Costa Rica, Staatsreligion), kein Gesetz kann ohne Zustimmung der Kirche verabschiedet werden. Alle gehen am Samstagabend um 19 Uhr in ihre Kirche und feiern dort ihren Gottesdienst wie einen gesellschaftlichen „evento“.
Jeder ist bester Stimmung, die Frauen haben sich geschmückt und geschminkt, Blumen und Broschen glitzern in den Haaren. Die Kirchentüren stehen offen während der Gottesdienst von mehreren Predigern und Gemeindemitgliedern gestaltet wird, immer wieder kommen noch Nachbarn und Freunde, sie begrüßen ihre Freunde in allen Stuhlreihen, immer mehr Stühle werden aufgestellt, alles fließt. Die Musik steckt allen im Blut, alle singen mit, die Männer besonders freudig (die Texte werden auf eine Leinwand projiziert), es wird geklatscht und getanzt. Statt Orgelmusik gibt es mitreißende Schlagzeugrhytmen, dazu Gesang mit Gitarren- und Klavierbegleitung. Der Samstagabend-Gottesdienst ist DIE Veranstaltung für die gesamte Gemeinde. Hinterher werden Neuigkeiten ausgetauscht und die Kinder quengeln bei ihren Eltern, ob sie bei den Freunden übernachten dürfen, wie daheim.
Am Sonntag gehen alle auf den Fussballplatz und verbringen dort die meiste Zeit des Tages. Die Ticos sind besessen von Fussball, “Gerd Müller“ kennt jeder Tico !
Die Arbeitswoche hat es in sich. Freddy und Samia stehen wie alle in ihrem Dorf morgens um 4.00 Uhr auf. Samia brät und bruzelt schon vor 5 Uhr in der Küche tortillas, empenadas, gallo pinto (Reis mit Bohnen), platanos, huevos (Eier), eben das, was Freddy mitnimmt, um an seinem Arbeitsplatz mit seinen Kollegen zu frühstücken und Mittag zu essen (man kauft sich eher nichts, zu teuer). Freddy ist Assistent der Technischen Geschäftsführung des Telefonunternehmens I.C.E., er verdient ca $1.000 im Monat, verlässt um 5 Uhr morgens das Haus und kommt um 19:30 Uhr zurück. Die meisten Männer, die in der Stadt arbeiten, fahren mit dem Bus und nutzen die Zeit, noch eine Mütze Schlaf zu bekommen.
In der Küche ist kontinuierliches Bruzeln, da jeder zu unterschiedlichen Zeiten frühstückt und das Haus verlässt. Jimena ist in der 7. Klasse, auch sie nimmt den Bus in den nächsten Ort, der La Suizza heisst.
José Pablo geht noch in Tuis in die (Grund)Schule. Er ist der Nächste, und dann kommen Emily und ich dran, wir beide sind die eingemieteten Gäste der Spanischschule, die dem Ort Tuis eine eigene Attraktivität und eine gewisse Einkommenschance gibt (proTag $39 für Unterkunft, Verpflegung, Internet – ging zwar nicht, sie hatten vergessen zu bezahlen – und Wäsche waschen).
Vor einigen Jahren stellte die Regierung Samia wie auch anderen unterstützungsbedürftigen Familien eine kleine Hütte zur Verfügung. Nach 8 Jahren wird das Häuschen den Familien als Eigentum übertragen. Mit viel Fleiss und Tatkraft haben Freddy und Samia an drei Seiten des Hauses immer weitergebaut, so dass es jetzt ein relativ großes Haus mit angenehmen Gästezimmern und einer zugegebenermaßen gewöhnungsbedürftigen Dusche ist.
Die Küche mit dem Essbereich ist der ursprüngliche „Regierungsbau“, einfache Mauern mit einem Wellblechdach drauf. Oben nach allen Seiten offen, aber gut genug vor dem Regen geschützt. Nach der ersten Nacht weiß man, was da alles so auf dem Wellblechdach abends und nachts rumtrappelt, und dann fühlt es sich nicht mehr so fremd an, dort zu wohnen und zu schlafen.
Samia ist immer allerbester Laune, sie hat Spaß an allem, putzen, kochen, waschen, bügeln, Geschirr abwaschen („es riecht immer so schön“), sie näht „bolsas“ (Taschen) und träumt von einer Boutique, in der sie ihre eigenen Entwürfe verkauft. Freddy hat für Samia eine eigene facebook Seite und einen blog eingerichtet und unterstützt all ihre Aktivitäten.
Die Ticos sind sehr sauber, jeden Tag gibt es frisch gestärkte Hemden oder Blusen zu den Schuluniformen, die Waschmaschine läuft ständig, die Haare der chicos (Jungen) sind gegelt, in der Spanischschule wurde ich wie jeder amerikanische Schüler freundlich darauf hingewiesen, dass ich mehrmals am Tag duschen darf/ sollte wegen der hohen Luftfeuchtigkeit. Es wird -zig mal am Tag die Wohnung gefegt, wobei ich auch als Gast darauf zu achten habe, dass ich meine Sachen immer im Schrank verstaue, damit man barrierefrei fegen kann.
Selbst in den ärmsten Gegenden werden Maniküre und Pediküre, Massage und andere Schönheitsprogramme angeboten und ich habe kaum eine Frau gesehen, die sich nicht an ihren künstlerisch bemalten Fussnägeln in ihren eher einfachen Flip-Flops erfreute.
Die Ticos haben einen ausgeprägten Schönheitssinn. Neugeborene Mädchen werden noch im Krankenhaus an den Ohren gepierct, damit sie sich von klein auf mit Ohrringen schmücken können. Es wird damit begründet, dass das Baby im Krankenhaus nichts von dem Piekser merkt, später würde das Piercen einen Schmerz verursachen und diesen möchte man den Mädchen ersparen.
Die Kirche, oder besser gesagt die Mission (CISA) hier in Tuis, ist gleichzeitig die Spanischschule. Der Unterricht hat Spass gemacht. Wer nur 10 Minuten spendieren will – hier ist der Schnellkurs. Vanessa ist meine Spanischlehrerin, seit sie ein Baby hat, muss sie drei Jobs machen: morgens unterrichtet sie in der Spanischschule, mittags arbeitet sie ihrer Ausbildung entsprechend als Lehrerin und abends gibt sie Erwachsenenunterricht.
Dies, weil sie und ihr Mann sich ein großes Haus gebaut haben, viel investiert haben aufgrund guter Gehälter und nun müssen sie ihre Schulden abbauen, da Vanessa nur noch einen halben Lehrauftrag hat.
Wie die Ticos eben sind, machen sie das Beste aus allem, sie vermeiden Konflikte, behalten immer ihre Würde und sind fern jeder Arroganz. Die Schwester betreut das Baby und Vanessa und ihr Mann nutzen ihre Freizeit zum Arbeiten, um ihren Traum, ein bezahltes eigenes Haus, zu verwirklichen. Wenn man ein regelmässiges Einkommen nachweisen kann, bekommt man von der Bank einen Kredit, diese scheinen variabel zu sein, von 8% bis zu 25%, wohl je nach Einschätzung des Bankers.
Die große Familienbezogenheit der Ticos zeigt sich auch darin, dass die Kinder in der Regel zu Hause wohnen, bis sie heiraten. Wie ich hörte, gibt es immer mehr minderjährige Mütter (ich weiß nicht, ob es damit zu tun hat, dass die Ticos nicht „nein“ sagen können :-)).
Nicht nur in der Familie, auch per Gesetz, versucht man, die Kinder zu schützen. Wenn der Vater eines Kindes noch minderjährig ist, müssen die Eltern den Unterhalt für das Kind zahlen. Mit seinem 18. Lebensjahr ist der Vater verantwortlich für den Unterhalt, wenn er nicht bezahlt, wird er „abgeholt“ und kommt ins Gefängnis, so lange, bis entweder er selbst oder jemand aus der Familie die regelmässige Unterhaltszahlung übernimmt. Offensichtlich ist dieses Programm ganz nachhaltig, weil die jungen Männer sich bemühen, Arbeit zu finden (manchmal 3 Jobs am Tag), um ihren Verpflichtungen nachzukommen. Gefängnis ist gegen ihre Würde.
Auf der Fahrt zurück nach San José und zum Flughafen, um Gerd von seinem 23 Stunden Flug abzuholen, erfreue ich mich an schön angelegten Kaffeeplantagen, die von Palmen und Eukalyptusbäumen beschattet werden.
Indien wie auch der Besuch von Gerd’s Chef diese Woche waren ein Erfolg, beides für Gerd mit viel Arbeit verbunden.
Nachdem wir beide schon Szenarien durchgespielt hatten, wie und ob ich pendeln kann (ich hatte einen offiziellen Unternehmens-Rückruf, um zukünftig in Ehningen bei Stuttgart zu arbeiten), habe ich ein weltweites neues Projekt bis Jahresende bekommen und arbeite jetzt u.a. auch für die Chinesen.
Mit großer Freude haben wir unsere ersten Besucher vom Flughafen abgeholt, Julia Alessandra ist mit zwei Freunden für 3 Wochen hier (momentan am Pazifik beim Surfen) und wir haben zusammen eine tolle Geburtstagsnachfeier mit heißer Musik und viel Spaß gefeiert.
Und damit wir aus dem Feiern nicht ‚rauskommen, haben Gerd und ich gestern ganz allein für uns unseren 1. Hochzeitstag genossen, mit vielen Überraschungen und einem schönen Abendessen bei Saxophonmusik.
Liebe Dagmar,
„Gerd Müller“ war schon in früheren Jahren ein Knaller. Wir waren m,it ihm und Luise mit einem Opel Kadett in Griechenland, und sind dazu mit der Fähre von Italien (Brindisi) nach Igoumenitsa gefahren. Bei der Einreisekontrolle (Schengenabkommen noch lange nicht in Sicht) sagte die Zollbeamtin: „Gerd Müller – und you are driving a Kadett??!!“ Nun ja, sie hat uns trotzdem rein gelassen.
muchos saludos
Wolfgang
Zum Glück hat dir Gerd die Kamera da gelassen, so dass du alles wunderbar dokumentieren konntest!
Hallo Dagmar, Hallo Gerd,
erneut eine wunderschöne Geschichte, diesmal eine, die einem die Menschen in Costa Rica richtig näher bringt. Auch von hier aus merkt man deutlich an deinen Worten, Dagmar, dass du sie in dein Herz geschlossen hast und was für tolle Menschen das sind. Ich wünsche euch natürlich nachträglich noch alles Gute zum Hochzeitstag, ich hoffe, Ihr habt diesen schön gefeiert.
Liebe Grüße aus dem sonnigen Entringen, eure Anita
Hello this is Sherwin Cosiol I am trying to send you an e mail but it does not go through,
I tried gerd_muller@gatm.de but it bounces.
I guess you liked the Costa Rican TUV approved water shower heaters.
Regards.
Geliebtes Schwesterherz,
lieber Gerd,
nun habe ich mir endlich die Zeit genommen, den lehrreichen Bericht über die Ticos zu lesen!! Ist sehr interessant, wie diese Menschen leben. Einiges davon wäre hier auch nicht schlecht.
Die Kinderkleidchen und die Taschen, die Samia „zaubert“, sehen super aus. Diese Zeit dort wird bestimmt für Dich unvergeßlich bleiben, liebe Dagmar. Man merkt an dem Bericht, wie wohl Du Dich dort gefühlt hast.
Genießt jetzt wieder zusammen die Zeit. Wir hoffen, dass es Euch weiterhin gut geht und ihr beide beruflich glücklich und zufrieden seid. 🙂
Denken oft an Euch, liebe Grüße und gaaaaaanz viele Bussis.
Greta und Fritzi