In den drei Monaten, die wir hier leben, haben wir viel Zeit verbracht, die Naturschönheiten dieses Landes zu suchen und zu entdecken. Gleichermassen neugierig sind wir auch auf die Menschen, die hier leben und die sich sichtbar anstrengen, ihr Land zu erhalten und zu schützen.
Wie leben die Costa Ricaner, was prägt sie, wie sieht ihr Alltag aus, was sind ihre gefühlten Probleme, wie gehen sie damit um, welche Werte leben sie ….
Vielleicht ist es ja etwas verwegen, dieses Thema schon nach drei Monaten aufzugreifen. Einige Begebenheiten, die wir bisher erlebt haben, erzählen Geschichten über die Menschen selbst :
Katia, die mit ihren Eltern und vier Geschwistern aus Nicaragua nach San José gezogen ist, hilft uns stundenweise im Haushalt. Gerade 18 Jahre alt geworden hat sie in der Abschlussklasse des „colegios“ in den Abendunterricht gewechselt. Natürlich könnte sie auch tagsüber ihre Schulausbildung beenden, aber die Lernmaterialien und die Kosten für die Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen sind so hoch, dass sie sich das Geld tagsüber verdienen muss. Anschliessend möchte sie studieren. Um sich ihre Ausbildung an der Universität leisten zu können, muss sie noch ca 2 Jahre ganztags arbeiten. Katia ist immer ausgeglichen und freundlich, sie plant ihre Ausbildung bewusst und ihre Mutter Juanita, die täglich 10 Stunden im Haushalt arbeitet, motiviert ihre fünf Kinder zu einer guten Berufsausbildung ( eine Haushaltshilfe 24h/7T verdient zwischen 180 – 200 € pro Monat. Dazu im Vergleich : 1/2 kg Brot € 1,30, 1 l Milch € 0,95, 1 Flasche Bier € 0,75, 1 kg Bananen € 0,15) .
Auf der Suche nach etwas Kultur des Landes nach so viel Flora und Fauna in Regenwäldern haben wir Walter an der Rezeption einer Lodge kennengelernt, der ein Museum angegliedert ist. Die Hotels oder Gästehäuser in Naturreservaten heissen allgemein „lodge“; meistens sind es einzelne kleine Häuschen, die sich harmonisch in die naturbelassene Umgebung integrieren. Walter hat sein Studium als Biologe abgeschlossen, ist jetzt offizieller „naturalist guide“ und engagierter Naturschützer. Ganz im Gegensatz zu seinem bereits gelebten Traum, ausschliesslich in der Natur zu arbeiten, hat er sich als Rezeptionist anstellen lassen, um sich das Geld für ein neues Fernrohr zur Vogelbeobachtung kaufen zu können. Sein Plan ist, zielgruppengerechte Touren zusammenzustellen. Er hat beobachtet, dass die Menschen sich untereinander nicht kennen und selbst dann nicht miteinander kommunizieren, wenn wie in diesem Falle, zwei Lodges und ein Museum direkt mit offenem Zugang aneinandergrenzen. Dies führt zu einer Vielzahl sich überlappender Angebote, die in ihrer Gesamtheit den Costa Rica Reisenden verwirren und überfordern.
Bei aller Freundlichkeit, die jeder hier in Costa Rica sichtbar lebt und uns auch damit begegnet, haben wir festgestellt, dass die Türen sich für uns nicht von allein öffnen. So haben wir nach gut zwei Monaten alle Nachbarn aus dem Haus eingeladen und alle, die uns schon einmal über den Weg gelaufen sind und für uns irgendwie greifbar waren. Wir wussten nicht, wieviele Gäste wir haben werden, denn man sagt immer „ja“ und freut sich, das heisst aber nicht, dass man kommt. Nein-Sagen gilt hier als unhöflich und birgt das Risiko, den anderen zu verletzen. … und das würden die Ticos niemals tun.
Letztlich haben wir uns essensmässig auf so viele Gäste eingestellt wie wir auch eingeladen hatten (25 Erwachsene und 7 Kinder) und siehe da, es kamen genauso viele. Es kamen zwar nicht alle, die wir eingeladen hatten, aber dafür brachten die anderen z.B. ihre Mütter mit, ihre Tochter mit Freund oder Bekannte, die auch gerade da waren. Es war ein bunt gemischtes Fest mit Begegnungen auch aus Mexiko, Nicaragua, Spanien und dem Iran und – sehr ungewöhnlich für die Hiesigen – wir hatten in unser neues Zuhause eingeladen, was man hier eher nicht macht (man feiert in „el rancho“, das ist ein überdachter Platz zum Feiern, den alle nutzen können). …und, wir hatten die Kinder mit eingeladen (was sonst ?) , die aber alle sichtlich Spaß hatten, in einem Zimmer mit Luftballons und Spielen ohne „ihre maids“ rumtoben zu dürfen.
Durch Roxana, die uns gegenüber wohnt und die ich nun immer beim Schwimmen treffe, haben wir Kontakt zur Handelskammer bekommen, da ich schon vorsichtig meine Fühler ausstrecke, wo und wie ich mich gegebenenfalls hier vor Ort in einer sozialen Sache engagieren kann.
Alberto, der Vertreter der deutschen Aussenhandelskammer in Costa Rica, hat mir bestätigt, dass die Costa Ricaner von ihrem Naturell her sich auf ihre Familie fokussieren und sich eher selten den ausländischen Mitbürgern öffnen. Umgekehrt berichtet er auch davon, dass z.B. die Amerikaner und Europäer, die in Costa Rica arbeiten, sich lieber in ihrem „Kondominium“ unter ihresgleichen aufhalten und Costa Rica „konsumieren“. Dass jemand sich für den Alltag des Costa Rica Bürgers interessiert, für die sozialen Missstände oder gar mithelfen will, scheint eher ungewöhnlich. Costa Rica wird hervorragend vermarktet, sagt er, aber das wahre Costa Rica ist auch von Armut und Problemen durchzogen. 300.000 Arbeiter verdienen nicht genug, um ihren Hunger zu stillen, die Zahl der arbeitenden Kinder wird auf über 100.000 geschätzt. Obwohl der Mindestlohn in der Verfassung verankert ist, erhalten noch 30-40% der Arbeiter weniger als den Mindestlohn. Momentan führt das Arbeitsministerium eine Mindestlohnkampagne durch und investiert in die Prävention der Ausbeutung von Arbeitern, um die zunehmende Armut zu stoppen.
Der 24 jährige Naturfotograf, Biologe und Vogelkundler Michael, hat uns beim gemeinsamen Frühstück nach einer 6 Uhr „bird watching tour“ erzählt, dass er mit anderen gemeinsam eine Institution gründen will, um kostbares Wissen um Costa Rica und dessen Flora und Fauna zu erhalten. Durch den stark ansteigenden Tourismus gibt es
inzwischen eine Flut von „guides“, die zwar formelle Titel führen, aber eher wenig über Land und Leute wissen. Michael engagiert sich in dieser Initiative und strebt eine Führungsrolle an, um sicherzustellen, dass Naturführungen nur von zertifizierten, vergleichbar gut ausgebildeten Führern gemacht werden. Schon sein Vater und Großvater waren „naturalist guides“ und lebten „pura vida“ als Naturnähe, was sie als tiefere Einblicke in die Tier- und Pflanzenwelt den Touristen und Naturforschern vermittelten. Dieses den Besuchern von Costa Rica zu erhalten, auch um den Preis bisher nicht gekannter und eigentlich ja nicht beliebter Regularien, ist die Zielsetzung dieses Verbandes.
Elena, Lehrerin und Mutter einer kleinen Tochter, leitet die kleine Bergschule in San José de la Montagna. In dieser Schule werden Kinder ab dem 4. Lebensjahr betreut und unterrichtet (mit 4 – 5 Jahren im „prekinder(garten)“, mit 6 Jahren im „kinder“, bis zum 12. Lebensjahr in der 1. – 6. Klasse, danach wechselt man in das „colegio“ für die 7. – 11. Klasse). Die Lehrer arbeiten mit einer knappen Stunde Mittagspause ganztägig, die Schulen sind kapazitätsmäßig so ausgelegt, dass die eine Hälfte der Schüler vormittags und die andere Hälfte nachmittags unterrichtet werden. Der Besuch der öffentlichen Schulen ist kostenlos, in jedem noch so kleinen Dorf gibt es eine Schule und Lehrer, die eine große Begeisterung für ihren Beruf haben und deren Weg oft 1-2 Stunden per Bus und zu Fuß bis zur Schule ist. Die Regierung sorgt für die Schulen (Gebäude und Möbel), die Lehrer und deren Lehrmaterialien, das Mittagessen. Die Eltern müssen Schulbücher kaufen, Lernmaterialien (wie Stifte, Hefte) und die Uniform der Kinder. Für das alles, inbesondere bei mehreren Kindern, reicht das Geld oft nicht aus, zumal die Bücher unverhältnismäßig teuer sind. So haben in den ländlichen Schulen nur die Lehrer Schulbücher, die Kinder erhalten Kopien und wenn die Schule keinen Kopierer hat, wird eben von der Tafel mitgeschrieben.
Die landesweite Initiative Libros para todos der Zeitung „Grupo Nación“ hat sich zum Ziel gesetzt, Bücher für jedes Kind zur Verfügung zu stellen. Sie klärt über die Nachteile auf, die Kinder ohne Bücher haben und druckt neue Schulbücher und Hefte zu geringeren Preisen. Viele Organisationen unterstützen diese Initiative. Von 860.000 lernenden Kindern gibt es geschätzte 285.000 Kinder ohne ein eigenes Schulbuch. Wir hatten ja bei einer Veranstaltung des „Women’s Club Costa Rica“ einige Hotel-Wochenenden in einer „silent auction“ erstanden, dessen Geld auch in diese Initiative floss. Zu meiner großen Freude konnte ich bei der Übergabe der Bücher in dieser kleinen Schule mithelfen, wenn auch nur, indem ich die Fotos machte, die wir der Schule und dem Verein dann zur Verfügung gestellt haben.
Die Freude der Kinder über die Bücher zu erleben, die emotionale Ergriffenheit der Schulleiterin über so viele Lehrmaterialien und das Glücksgefühl der engagierten Club Leiterin, dass das eigens für Vorschulkinder konstruierte Bücherregal so begeistert aufgenommen wurde, sind Erlebnisse, die auch mich bewegt haben.
Was mich am meisten beeindruckt hat und mir unvergessen bleibt, ist, dass in jedem Klassenzimmer, in jeder Altersstufe das Thema „unsere Werte“ zu finden war. Von Randall, einem Rechtsanwalt, haben wir erfahren, dass dies eine Initiative des Bildungsministeriums ist. Der Werteverfall in den vergangenen Jahren, die Zunahme von Diebstahl, Drogen, Missbrauch und häuslicher Gewalt sind Situationen, mit denen man sich tagtäglich auseinandersetzen muss. Äußerst beschämend empfand man die Verhaftung des ehemaligen Präsidenten wegen Korruption. Dies alles führte zu einer Rückbesinnung auf die Werte der Costa Ricaner, die 1948 ihre Armee abschafften ( „ab jetzt tragen unsere Kinder keine Waffen mehr über der Schulter, sondern ihre Bücher unter dem Arm“).
Jetzt setzt man auf Schule und Ausbildung und auf die nachhaltige Vermittlung der Werte vom Vorschulalter an. Los Valores der Costa Ricaner sind Ehrlichkeit, Toleranz, Freiheit, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Solidarität, Großherzigkeit, Freundschaft, Loyalität, Respekt, Besonnenheit, Verantwortung, Fleiss, Gutherzigkeit, Demut, Frieden, Zielstrebigkeit und Stärke.
Es ist immer wieder spannend Eure Berichte zu lesen.
Vielen Dank und liebe Grüße,
Otmar
Klasse, daß ihr jetzt schon so viele Bekannte und Freunde habt.. wünsche Euch, daß Euer „get-together“-Initiative Folgen hat…und das mit den VALORES täte m.E. in D und MY auch ganz gut! Super Idee…!!!Sollte sich überall rumsprechen! Drück Euch feste..sind in Gedanken oft bei Euch. Sag Euch ein herzliches DANKE und sende ein festes Drückerle , Eure Ingeborg
Ich finde es grossartig, mit wieviel Engagement und Begeisterung Ihr tief in Eure neue Heimat „eintaucht“ … Ich lese Eure Berichte sehr gerne und freue mich auf weitere schöne Artikel. Super ! Viele Grüsse aus good old Germany – Ulli
Geliebtes Schwesterherz,
lieber Gerd,
herzlichen Dank für diesen wieder einmal beeindruckenden Bericht über Land und Leute.
Diese Werte würden überall sehr gut tun! Bestimmt würde dann vieles ganz anders aussehen! Und dann die Kinder mit ihren Büchern, dass rührt einen doch sehr!
Es ist schon sehr faszinierend, was ihr dort in der kurzen Zeit erlebt habt. Macht weiter so und laßt es Euch gut gehen.
Wir sind in Gedanken bei Euch Lieben und schicken besonders herzliche Grüße und viele dicke Küßchen.
Alles. alles Liebe von Greta und Fritzi
Para vida,
Eurer Artikel hat mich angeregt, im Reiseführer über die Menschen in Costa Rica weiter nachzuforschen. Dabei habe ich gelesen: Para vida, das wahre Leben, rufen sich die Ticas und Ticos – natürlich stehen im Reiseführer die Tios vor den Ticas – fröhlich zu, wenn sie sich auf der Straße begegnen oder Geschäfte abschließen. Euer Artikel schildert das Para vida!
Zugleich wirft Eure Schilderung – wie ähnliche Berichte, etwa aus dem heute neu gegründeten Staat Südsudan – für mich persönlich immer die Frage auf: Warum bin ich in ein Land mit großem Reichtum und hoher Bildung hineingeboren worden?
Muchos recuerdos!
Bernhard